Eine neue Herausforderung – was mich stark macht
Meine Tochter ist nach Berlin gezogen. Ich habe beschlossen, diesen Umstand als positive Herausforderung zu werten.
Für sie ist eine echte Lebenserfahrung in der Großstadt zu leben, sich frei zu machen von kleinstädtischem Inselleben. Berlin ist Fasznination und Herausforderung. Ich bin neugierig auf das neue Berlin und bekomme beklemmende Einblicke in die Zeit vor 1989.
Obwohl ich ein Dortmunder Kind bin, geboren und aufgewachsen mitten in der Stadt, hat Berlin noch eine andere Dimension.
Im Oktober habe ich eine Sightseeing Woche dort verbracht, gemeinsam mit meinem Angegrauten. Wir haben uns die die touristischen Hauptattraktionen angeschaut, eine Fahrt mit dem Bus durch die Stadt, ein Ausflug mit dem Boot über die Spree, vorbei an allem Neuen und Altem, was die Stadt zu bieten hat. Und sie hat einiges zu bieten. Eine Woche ist zu wenig. Aber man muss Lust haben auf Großstadt und sich durchkämpfen.
Ich bin fest entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und öfter zu kommen. Beim nächsten Mal bin ich schon im November wieder dort, diesmal alleine.
Ich habe bis zum Nachmittag sozusagen zur freien Verfügung und will mir Berlin erarbeiten, dazu brauche ich einen Plan.
So ganz ohne Planung geht es bei mir nicht. Ich buche eine Führung durch Kreuzberg mit einem örtlichen Anbieter.
Den Weg zum Treffpunkt lege ich mit der U-1 zurück, dank moderner Verkehrs-App hat mir meine Tochter die Umsteigestationen genau beschrieben und ich komme planmäßig am Kottbusser Tor zu früh an.
Die Gegend ist nicht direkt beängstigend, aber auch nicht einladend.
Für mich ist vieles Gruselarchitektur der 60iger oder 70iger, teilweise renovierte schöne alte Gründerzeithäuser neben Mietkasernen der allerschlimmsten Art. Viel Verkehr rund um die S-Bahn-Station. Viel multikulturelles Treiben.
Ich erinnere mich an Szenen aus „Der Kriminalist“, den ich gerne gucke. Jetzt habe ich Berlin hautnah.
Ein großer Obst-und Gemüsestand mitten auf dem Bürgersteig, etliche Einkaufsmärkte gruppieren sich entlang der Straße, direkt an der Hochbahnstation, die eigentlich zur U-Bahn zählt. Einige ziemlich abgewrackte Typen drehen ihre Runden um Mülltonnen und suchen oder fragen Passanten nach Kleingeld. Ich bin nicht ängstlich, aber die Situation veranlasst mich, zunächst noch am Eingang eines Supermarktes zu warten und zu schauen, ob weitere Teilnehmer eintreffen. Nach kurzer Zeit taucht ein Ehepaar um die 60 auf. Und Markus, ein sympathischer Typ um die 40, mit Fahrrad, Käppi (wie Helmut Schmidt) und legerer Straßenkleidung. Wir bleiben eine kleine Runde. Das Ehepaar ist aus Münster, unauffällig, nicht sehr spannend. Sie reisen mit einer katholischen Reisegruppe und haben sich auch nicht getraut allein in Kreuzberg.
Markus ist ein Gerne-Erzähler, er kommt nicht aus Berlin aber kennt die Ecken wie seine Westentaschen.
Er ist geschichtlich bewandert, erzählt viel aus den 70iger- 90iger Jahren, über die Hausbesetzerszene um Rio Reiser (König von Deutschland), von Wagenburgen mit fester Anschrift und Klo.
- In meiner Heimatstadt gibt es sogar einen Rio-Reiser Song-Contest– durchaus interessant!
Kunstausstellungen und ein sog. Mauergarten, der in der Zeit der Mauer direkt im Niemandsland von einem türkischen Mitbürger errichtet und geduldet wurde. Am Todesstreifen. Eine Art leiser Widerstand, der mich bewegt.
Eine fremde Welt, die sich mir erst heute in der ganzen Tragik erschließt nachdem ich in den zentralen Jahren der Trennung beider Deutschlandteile diese hingenommen hatte wie einen ganz normalen Zustand, der unabänderlich war.
Markus führt uns in Ecken, wo ich definitiv keinen Fuß hin gesetzt hätte,
nicht im Hellen und nicht im Dunkeln. Wir erfahren einiges über die Hinterhöfe in Kreuzberg, Graffiti Künstler, überhaupt viel Szene-Infos.
Auch die Drogenszene wird uns eindrucksvoll vorgeführt. Der Görlitzer Park beherbergt eine unübersichtliche Anzahl von Dealern. Wir sehen nicht so aus als ob wir was kaufen wollten und sie lassen uns in Ruhe. Ohne Markus hätte ich dieses Stück Realität nie gesehen. Es hat mich sehr beeindruckt, aber ich wollte doch lieber schnell wieder weg. Diese Welt ist mir zu fremd, zu beängstigend.
Hier wird der Krimi Realität.
Wir machen eine Pause in einer Szenekneipe „Café Jenseits“an der Oranienstrasse. Trinken ganz normalen Kaffee und wärmen uns auf. Sehr gemütlich in Wohnzimmerambiente.
Es ist kalt und nach 3 Stunden Führung bin ich durchgefroren. Eine super interessante Erfahrung, die ich nur empfehlen kann.
(Get your Guide für 15 EUR- empfehlenswert)
Wir fahren zurück in die Stadt und ich freu mich, dass ich diesen Weg der Stadterkundung gewählt habe. Werde ich wieder machen bei nächster Gelegenheit.
Das Beste ist, ich habe etwas für mich ganz persönlich neu entdeckt, ich muss manches neu ausprobieren.
Ich habe Lust auf mehr.
Fortsetzung folgt