Kindheit im Ruhrpott

um 1938

Westfalen – Kindheit im Ruhrpott

Irgendwo im Ruhrgebiet, nahe Dortmund, Bergwerke, Stahlwerke, dunklen Häuserreihen. Irgendwo krähten Kinder beim Spiel in einem spärlich bewachsenen Hinterhof mit grünen Wäschestangen, an denen mit Holzklammern befestigt große weiße Wäsche zum Trocknen aushing. Der Duft von frischer Wäsche mischte sich mit dem eklig warmen Dunst von Blut, verbrannter Kohle und Sauerkraut. Aus den von  Russ geschwärzten Häusern stieg Qualm auf aus den Kaminen.

In Haus Nummer 36 an der Ecke der Lilienthalstraße war jemand laut gestikulierend hinter einem Fenster zu sehen. Eine stämmige Frau mit schmutzigem Haushaltskleid fuchtelte wild mit den Händen und zeigte in Richtung Hinterhof. Ein kleines Steinhäuschen, eine grob gemauerte graue Laube mit wilden Blumen rundherum, bog sich krumm auf einem kleinen Erdhügel, stand inmitten von Kartoffelbeeten, ordentlich gehakt und an krummen Stöcken hoch gebundenen Bohnen, die im Herbst ihrer Ernte freudig entgegen wuchsen. Vor der Laube lag auf einer Steinbank ein aufgeschlitztes Schwein rücklings.

Das Blut lief aus dem Schwein in schnellen pulsierenden Bächen in einen unsichtbaren Ablauf.

Der Geruch des frischen Blutes lag in der Luft. Alfred, Nachbar aus Haus Nr. 38 hatte entgegen alle Regeln und Vorschriften geschlachtet.  Das Schwein vermutlich geklaut. Wie immer.

Die Frau namens Wilma, die sich lauthals über diese Schweinerei aufregte, hatte 3 Kinder, die kaum satt zu kriegen waren. Willi, ihr Mann, arbeitete als Stahlarbeiter am Hochofen bei Hoesch.  Kam von der Frühschicht  durch den Hof und ging die fünf Stufen hoch durch den Hintereingang.

Die alte Holztür knarrte, der Hausflur war sauber, aber es roch modrig nach altem Holz und feuchtem Keller. Die frechen Gören, wie er sie immer halb liebevoll nannte, saßen aufgereiht in der Küche am gedeckten Mittagstisch als er an diesem Tag durch die Wohnungstür polterte.

„Was gibt’s heute?“

„Guck die Schweinerei an da draußen, da vergeht dir doch der Appetit. Alfred hat wieder eine Sau gemacht. Ich rufe die Polizei, es gibt Sauerkraut“ zeterte sie ohne Punkt und Komma.

„Was geht’s mich an, will kein Streit“.

Karl setzte sich zu den Kindern, strich dem Kleinsten und einzigem Jungen „Klein Karl“ direkt neben ihm barsch über die ungekämmten Haare.

„Deck auf Frau, ich bin müde und muss schlafen“.

Er bekam einen ordentlichen Schlag Sauerkraut mit Kartoffelbrei und ein kleines Stück Leber mit Zwiebeln aufgetischt, nahm sich wortlos das Besteck und begann das Essen zu verschlingen.

Keine Zeit für Knigge.

Karl  stemmte die Portion in Windeseile, rülpste einmal laut und lachte dabei.

„Gut Frau, das reicht. Ich hau mich hin.“

Während die Kinder noch unlustig im Sauerkraut stocherten, bewegte sich der Vater, ein kleiner drahtiger Mann, trainiert von der harten Arbeit und mit schütterem Haar über einem mimiklosen Gesicht in Richtung Schlafzimmer.

Dort fiel er fast unmittelbar, nachdem er sich seiner Arbeitskleidung entledigt hatte, wie ein Stein ins Bett und begann sofort zu schnarchen, dass die Wände wackelten.

Wilma zeterte noch ein wenig vor sich hin, hielt die Kinder zum Essen an und begann den Tisch zu räumen, das Geschirr in den steinernen Waschtisch zu stapeln um es mit kaltem Wasser abzuspritzen. Dann setzte sie einen großen dunkeln Emaillekessel auf den großen weißen Herd, um Wasser zu kochen für einen Kaffee und das Spülwasser. Sie öffnete die Ofentür und stocherte in der Glut, legte ein bisschen Kohle aus der schwarzen Kohletüte nach.

Für sie war der Tag lange noch nicht zu Ende, nach dem Spülen musste die Wäsche abgenommen und gerichtet werden. Im Keller kochte noch ein Kessel mit weißer Wäsche, die noch geschleudert und gewrungen werden musste, bevor sie auf den Dachboden zum Trocknen geschleppt werden konnte. Aber ein Kaffee musste sein.

Echte Bohnen aus dem Kaffeehaus in der Stadt.

Ihre Schwester Herta  hatte sie ihr geschenkt zum Geburtstag. Liebevoll wurde die alte Mühle aus der Schranknische geholt, ein paar Löffel Bohnen hinein. Dann klemmte sich Wilma die Kaffeemühle zwischen die Schenkel und begann mit Freude zu mahlen.

Karl  schlief in aller Regel bis sieben abends.

Nicht mehr als sechs Stunden täglich. Er wusch sich kurz, ging mit nassen Händen durch die grauen Fäden auf seinem Kopf. Dann zog er sich frische Sachen und Schuhe an, um sich mit Wilma noch zwei Stündchen bei Brot und Käse und einem halben Liter Bier in der guten Stube aufzuwärmen bevor er sich  auf den Weg zur Metzgerei in der Nähe machte. Noch ein paar Stunden ging er aushelfen. Das Geld bei Hoesch reichte nicht aus, um die Familie satt zu bekommen. Die Zeiten waren mager.

Die große Ursel war inzwischen fast 10 Jahre alt und lernte gut. Vielleicht später mal würde sie eine Ausbildung machen.

Sie wollte vielleicht Lehrerin werden. Aber die Eltern hatten wenig Zeit sich über die Zukunft Gedanken zu machen.

Am Nachmittag trafen sich die Kinder der Siedlung in den Innenhöfen der im Karree gebauten Häuser. Hier gab es viele Kinder, mit denen man spielen konnte. Murmeln wurden in kleine Sandlöcher geschoben,  Mädchen hüpften in Kreidekästchen oder sprangen durch ein Seil, dass von zweien im großen Bogen geschwungen wurde. Oft spielten sie auch Vestecken in den unübersichtlichen Hinterhofgärten. Wenn es zu langweilig wurde, saß der eine oder andere auch schon mal vergeblich hinter einem Busch. Weil er übersehen wurde in der Vielzahl der spielenden Kinder.

Im  Winter um fünf, im Sommer nach sechs wurde es ruhiger. Die Mütter riefen nach und nach ihre Rasselbande zum Abendbrot. Ursel und ihre kleine Schwester Ruth halfen dann beim Tischdecken, Brot aufschneiden und Tee kochen.

Dann wurde abgewaschen, alle packten mit an, Der kleine Karl war noch befreit.  Hände waschen. Gesicht nicht vergessen. Zähne putzen war nicht so beliebt.  mit der harten Bürste und der neuen Zahncreme, die sich Blendax*  nannte (gegründet 1932 ) https://de.wikipedia.org/wiki/Blendax

„Kriegste schöne Beisserchen von!“

Nach dem Abendessen holte Wilma ab und zu ein kleines abgegriffenes Kinderbuch heraus.  Sie war todmüde und hatte keine große Lust mehr. Öfter übernahm Ursel die Rolle der Vorleserin. Sie fühlte sich dann groß und war stolz, dass sie schon so schön lesen, konnte.

Die Tage verliefen gleich, täglich harte Arbeit ließ nicht viel Zeit für freie Gedanken, Muße oder Vergnügen.

Die Frauen funktionierten, hielten den Haushalt in Schuss, kümmerten sich um die Kinder und hatten genug damit zu tun, ihre Rolle zu erfüllen. Es gab in der sogeannten Unterschicht wenig Alternativen.  Der Krieg machte von 1939-1945 auch erstmal alle Hoffnungen auf ein besseres Leben zunichte….

——-  ein kurzer Einblick in die Zeit meiner Großeltern, wo ich später in meiner Kindheit oft genug auch noch in den bunten Gärten herum tobte, Murmeln spielte und Seilspringen übte. ———————————————————————————–